Gründung
Der Literarische Sonntagsverein Tunnel über der Spree (Tunnel) wurde am 9.12.1827 ins Leben gerufen. Initiator der Gründung war der Journalist Moritz Gottlieb Saphir (1795-1858), der seine satirischen Neigungen auf den Charakter des Vereins zu übertragen dachte und sich dabei die Ludlamshöhle, eine Gesellschaft, wie sie von 1817 bis 1826 in Wien bestanden hatte, zum Vorbild nahm. Er schied jedoch im Jahre 1829 aus dem Tunnel aus, woraufhin die mit übertriebener Parodie und "etwas zu gewolltem Humor" (Theodor Fontane, Von Zwanzig bis Dreißig, Berlin-Weimar 1982, S. 159) versehenen Gewohnheiten und Späne abnahmen, wobei die künstlerischen Arbeiten der Tunnel-Mitglieder, die diese dem Verein vorlegten, auch weiterhin Späne genannt wurden.
Entwicklung und Gewohnheiten
In den Statuten des Sonntags-Vereins zu Berlin aus dem Jahr 1835 (Berlin, S. 3) wurde festgestellt, der "Verein löste sich allmählig von dieser seiner ersten Tendenz los und neigte sich immer mehr zu einem ernstern und festern Streben hin." Der Vortrag bzw. die Vorlage, die Diskussion und die Kritik der künstlerischen Arbeit der Mitglieder war der eigentliche Zweck des Vereins, was für einen Berliner Verein etwas Neues war. Während in den ersten Jahren die geeignete Form des Vereinslebens erarbeitet wurde, beschränkte man sich mit den Spänen bald nicht mehr nur auf schöne Literatur, sondern es war "die Tendenz des Vereins ..., in einem heiteren, geselligen Zusammensein produktiv-künstlerische Tätigkeit zu fördern und durch freundlich-ernste Beurteilung der gelieferten Arbeiten sowohl den Arbeitenden das Fortschreiten auf einem richtigen Weg zu erleichtern als sämtlichen Mitgliedern einen reinen ästhetischen Geschmack zu erhalten und auszubilden. Er schließt hiermit zwar keine Kunst von sich aus, vorzugsweise widmet er seine Bestrebungen der Dichtkunst und nächst ihr der Musik" (Statuten, 1835, S.5).
Allerdings sind auch Späne aus dem Bereich der bildenden Kunst vorgelegt worden (Zeichnungen und sogar Gemälde). Bei der Einschätzung der Späne wurden in der Regel folgende Prädikate verwendet:
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sehr schlecht,
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schlecht,
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ziemlich,
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mittelmäßig,
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gut,
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sehr gut und
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Akklamation.
Gleichzeitig sollten dem Tunnel "religiöse und politische Beziehungen" fern bleiben (Statuten, 1835, S. 5), aber "in der Praxis des Tunnels war die Politik keineswegs ausgeschlossen".
(Joachim Krueger, Der Berliner Literarische Sonntagsverein "Tunnel über der Spree", in: Studien zum Buch- und Bibliothekswesen, Bd. 7, Leipzig 1989, S. 73-81, s. S. 77)
Das Tunnel-Mitglied Theodor Fontane charakterisierte die im Tunnel vorherrschende Meinung so: "Im ganzen war der Tunnel, trotz seines gelegentlich stark hervortretenden Freisinns, doch von jener altpreußischen Art, darin der Konservatismus in erster Reihe mitspricht" (Von Zwanzig bis Dreißig, S.184).
Mitglieder
Die Verbindung von Konservatismus mit der Haltung der Altliberalen verwundert nicht, wenn man sich die beruflich-soziale Zusammensetzung des Tunnels anschaut. Unter den 214 Mitgliedern, die der Tunnel während seines 71-jährigen aktiven Bestehens hatte, überwogen Beamte und Juristen (25 %), gefolgt von Offizieren (15 %). Fast ein Viertel der Mitglieder waren Adlige. Nicht einmal 30 Tunnel-Mitglieder waren dagegen hauptberuflich als Schriftsteller und Journalisten und nur wenige mehr als Musiker, bildende Künstler und Schauspieler tätig.
Zudem gab es Ärzte, Pädagogen, Pfarrer, Kaufleute und Professoren. In erster Linie stellte der Tunnel also kein Verein von Literaten, sondern ein Verein von Liebhabern der Literatur und der Kunst dar. Fontane meinte, dass im Jahre 1844 "die Gesellschaft ihren ursprünglichen Charakter bereits stark verändert und sich aus einem Vereine dichtender Dilettanten in einen wirklichen Dichterverein umgewandelt [hatte]. Auch jetzt noch, trotz dieser Umwandlung, herrschten `Amateurs' vor, gehörten aber doch meistens jener höheren Ordnung an, wo das Spielen mit der Kunst entweder in die wirkliche Kunst übergeht, oder aber durch entgegenkommendes Verständnis ihr oft besser dient als der fachmäßige Betrieb" (Von Zwanzig bis Dreißig, S. 154).
Bedeutung
Stilistisch befand sich der Tunnel in der Nachfolge der klassischen und romantischen deutschen Literatur, was durchaus der eher konservativen Einstellung seiner Mitglieder entsprach. Entscheidend auf die Anhebung des Niveaus des Vereins wirkte sich die Mitgliedschaft einiger sehr talentierter Männer aus. Für die Dichtung ist insbesondere Fontane , Emanuel Geib el, Moritz G raf von Strachwitz, Christian Friedrich Scherenberg , der spätere Nobelpreisträger Paul Heyse und eventuell auch noch Fontanes langjähriger Freu nd und Korrespondenzpartner Bernhard von Lepel zu nennen. Insbesondere der Balladenkunst im Tunnel kann Bedeutung nicht abgesprochen werden. Dabei steht Fontane zweifellos an erster Stelle . Wie von anderen war auch von ihm im Tunnel einiges erstmals zu hören, was später im Druck erschien:
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Der Tower-Brand,
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Der Wettersee,
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Der Wenersee,
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Der Tag von Hemmingstedt,
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Archibald Douglas, Schloß Eger.
Fontane war über zwanzig Jahre (1844-1865) Mitglied des Tunnels.
Währenddessen fungierte er auch als das angebetete Haupt (1859-1860), also als Vorsitzender des Vereins und überdies dreimal als Sekretär bzw. dessen Stellvertreter, wobei er die Protokolle zu führen hatte. Er entwickelte ein Gefühl der Zugehörigkeit, da der Tunnel für ihn "eine Art literarische Heimat darstellte, die Stätte, an der er als Schriftsteller aufwuchs, sich das Handwerkliche der Dichtkunst aneignete, aus der Kritik, die an seinen Gedichten geübt wurde, lernte und sich selbst als Kritiker versuchte. Hier erntete Fontane seine ersten und zum Teil sehr ermutigenden Erfolge, hier wurde er mit der Welt der Literatur und dem literarischen Leben eingehender und in breiterem Maße vertraut".
(Joachim Krueger, Sitzungsprotokolle und Jahresberichte des Tunnels über der Spree, in: Theodor Fontane, Autobiographische Schriften, hrsg. von Gotthard Erler, Peter Goldammer und dems., Bd. 3,2: Anmerkungen zu Band 3,1. Register für die Bände 1-3,1. Zeittafel. Zu dieser Ausgabe, Berlin-Weimar 1982, S. 59-145, s. S. 81 f.)
Unter den Mitgliedern des Tunnels waren nicht wenige bekannte Persönlichkeiten, die zum Teil auch im öffentlichen Leben Berlins und Preußens eine bedeutende Rolle spielten. Stellvertretend für andere seien die Maler und Zeichner Adolph Menzel und Theodor Hosemann, der Kunsthistoriker Franz Kugler, der Völkerpsychologe Moritz Lazarus, die preußischen Minister Heinrich v. Friedberg (Justiz) und Heinrich v. Mühler (Kultus), die Journalisten George Hesekiel und Rudolf Löwenstein, die Buchhändler Karl Heymann und Bernhard Wolff sowie die engagierten Mitglieder der jüdischen Reformgemeinde Ludwig Lesser (Bankkaufmann) und Siegmund Stern (Pädagoge) genannt.
Sozialisation
Über die Zurückhaltung bezüglich politischer Meinungsäußerungen hinaus versuchte der Tunnel, sich prinzipiell aus öffentlichen Diskussionen herauszuhalten, auch weil er in seinen Anfangsjahren schlechte Erfahrungen mit der Beteiligung an ihnen gemacht hatte. Das dürfte auch ein Grund für seine lange Lebensdauer und Anziehungskraft gewesen sein, denn seine Mitglieder waren zwar unternehmungsfrohe Männer, die es allerdings nicht anstrebten und zumeist auch gar nicht nötig hatten, sich über den Tunnel gesellschaftlich oder gar politisch zu profilieren. Geselligkeit mit künstlerischer Kreativität zu verbinden, das war im Tunnel offenbar möglich, ohne gleich dem Ruf eines Bohemiens ausgesetzt zu sein. Allerdings sollten die im Tunnel geknüpften persönlichen Beziehungen, die auch außerhalb des Vereins wirksam blieben, nicht unterschätzt werden.
Henrik Hofer 08.98